Selbstanzeige – Rettungsanker oder stumpfes Schwert?
Die strafbefreiende Selbstanzeige gilt als zentrales Instrument im Steuerstrafrecht. Wer reinen Tisch macht, soll straffrei bleiben – so zumindest der Grundgedanke des § 371 AO. Doch wie weit reicht dieser Schutz? Der Bundesgerichtshof hatte sich im Beschluss vom 25.07.2011 (1 StR 631/10) mit einem Fall zu befassen, in dem trotz abgegebener Selbstanzeige wegen Steuerhinterziehung in über 50 Fällen eine Verurteilung erfolgte. Die Entscheidung zeigt, dass die Selbstanzeige kein Freifahrtschein ist – schon gar nicht, wenn es um die Umsatzsteuer geht.
Was war passiert?
Ein Unternehmer zeigte sich im Rahmen einer steuerlichen Außenprüfung wegen möglicher Unregelmäßigkeiten selbst an – in der Hoffnung, durch eine Selbstanzeige nach § 371 AO Straffreiheit zu erlangen. Die Steuerfahndung nahm dennoch umfangreiche Ermittlungen auf, da Zweifel an der Wirksamkeit der Selbstanzeige bestanden. Im Ergebnis wurde ihm vorgeworfen, über mehrere Jahre hinweg systematisch Steuern in erheblichem Umfang hinterzogen zu haben – insgesamt in 52 Fällen.
Die Strafsache wurde vor dem Landgericht Darmstadt verhandelt. Während der laufenden Hauptverhandlung kam es zu einer dramatischen Wendung: Der Angeklagte unternahm einen Suizidversuch und erschien anschließend nicht mehr zur Verhandlung. Das Gericht setzte das Verfahren dennoch fort – gestützt auf die Vorschrift des § 231 Abs. 2 StPO, wonach eine Verhandlung in Abwesenheit zulässig ist, wenn sich der Angeklagte eigenmächtig entfernt hat.
Warum die Selbstanzeige nicht half – und der Prozess trotzdem fortgesetzt wurde
Der Bundesgerichtshof setzte sich im Beschluss vom 25. Juli 2011 (1 StR 631/10) mit mehreren zentralen Fragen des Steuerstrafrechts auseinander. Im Zentrum stand die Frage, ob eine Selbstanzeige zur Strafbefreiung führen kann – und ob ein Strafprozess trotz psychischer Ausnahmesituation fortgesetzt werden darf. Die drei wesentlichen Gründe für die Entscheidung des Gerichts lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Keine Strafbefreiung durch Selbstanzeige:
Die abgegebene Selbstanzeige war nicht vollständig oder rechtzeitig – die Voraussetzungen des § 371 AO waren nicht erfüllt, sodass eine Strafbefreiung ausgeschlossen war. - Verurteilung in 32 Fällen rechtmäßig:
Der Schuldspruch des Landgerichts Darmstadt wurde in 32 Fällen rechtsfehlerfrei getroffen. Die Revision blieb insoweit ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). - Verhandlung in Abwesenheit trotz Suizidversuch:
Das Fernbleiben des Angeklagten nach einem Suizidversuch wurde als eigenmächtig im Sinne des § 231 Abs. 2 StPO gewertet. Deshalb durfte die Hauptverhandlung rechtmäßig ohne ihn fortgesetzt werden.
Strenge Maßstäbe für Selbstanzeigen und klare Regeln für die Fortführung von Strafprozessen
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs unterstreicht gleich in mehrfacher Hinsicht die strengen Anforderungen an eine strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO. Schon kleine Formfehler, unvollständige Angaben oder ein verspäteter Zeitpunkt können dazu führen, dass der eigentlich gut gemeinte Schritt nicht zur Strafbefreiung führt. Der Fall zeigt: Eine Selbstanzeige ist kein Freifahrtschein – sie muss formal, zeitlich und inhaltlich lückenlos sein, um wirksam zu sein.
Zugleich macht der BGH deutlich, dass sich ein Angeklagter seiner Strafverfolgung nicht durch ein Fernbleiben aus persönlichen oder psychischen Gründen entziehen kann. Selbst ein Suizidversuch reicht nicht aus, um das Verfahren zu unterbrechen, wenn das Gericht ein eigenmächtiges Fernbleiben im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO annimmt. Die Strafjustiz soll handlungsfähig bleiben – auch in emotional aufgeladenen Verfahren.
Für Verteidiger, Steuerpflichtige und Berater bedeutet das Urteil:
- Sorgfalt bei der Selbstanzeige ist essenziell.
- Psychische Ausnahmesituationen schützen nicht automatisch vor einer Verhandlung.
- Verfahrensrechtliche Regeln wie § 231 Abs. 2 StPO haben konkrete und weitreichende Folgen – gerade bei längeren Prozessen.
1. Selbstanzeige immer vollständig und frühzeitig abgeben – unvollständige Angaben führen schnell zur Strafbarkeit.
2. Beratung durch Fachanwälte oder Steuerberater einholen, bevor eine Selbstanzeige erfolgt – Fehler sind kaum heilbar.
3. Auch bei psychischen Belastungen muss Verhandlungsfähigkeit geprüft werden – einfaches Fernbleiben ist riskant.
Quelle:
BGH, Beschluss vom 25.07.2011 - 1 StR 631/10

