Verstoß gegen den deutschen ordre public
Im Zeitalter grenzüberschreitender Lebensentwürfe gewinnen internationale Erbfälle zunehmend an Bedeutung. Viele Erblasser mit Auslandsbezug entscheiden sich für eine Rechtswahl, um die Nachfolge möglichst nach den Regeln ihres Heimatstaates zu gestalten – etwa durch die Wahl des englischen Erbrechts. Doch nicht jede ausländische Regelung ist mit dem deutschen Recht vereinbar. Besonders das in Deutschland verfassungsrechtlich geschützte Pflichtteilsrecht setzt der Gestaltungsfreiheit durch Rechtswahl enge Grenzen.
Der folgende Beitrag beleuchtet anhand eines konkreten Falls die Frage, wann die Anwendung eines ausländischen Erbrechts – hier: des englischen Rechts – wegen Verstoßes gegen den deutschen ordre public nach Art. 35 EuErbVO ausgeschlossen ist, insbesondere wenn dadurch der Pflichtteil eines adoptierten Kindes vollständig ausgehebelt würde.
Adoption und Rechtswahl des Erblassers
Der Kläger verlangte von der testamentarischen Alleinerbin Auskunft über den Nachlass des am 26.04.2018 verstorbenen britischen Staatsangehörigen John Keith L. Der Erblasser, Jahrgang 1936, lebte seit seinem 29. Lebensjahr dauerhaft in Deutschland. Am 30.10.1975 adoptierte er den Kläger durch notariellen Adoptionsvertrag, der am 20.05.1976 vom Amtsgericht Köln bestätigt wurde (§ 1741 BGB a.F.). Der Vertrag schloss Erb- und Pflichtteilsrechte des Klägers nach dem Erstversterbenden der Adoptiveltern ausdrücklich aus.
Am 13.03.2015 errichtete der Erblasser ein notarielles Testament, in dem er die Beklagte zur Alleinerbin einsetzte und alle früheren Verfügungen widerrief. Zugleich wählte er das englische Erbrecht als maßgebliches Erbstatut (Art. 22 Abs. 1 i.V.m. Art. 83 Abs. 4 EuErbVO). Der Nachlass umfasste u. a. eine Immobilie in Deutschland. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland.[1]
Pflichtteilsrecht trotz Rechtswahl
Das Berufungsgericht sprach dem Kläger einen Anspruch auf Auskunft und Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zu. Der Kläger sei als adoptierter Sohn gemäß §§ 2303 Abs. 1, 1754 Abs. 1, 1755 Abs. 1 BGB pflichtteilsberechtigt. Die im Testament getroffene Rechtswahl zugunsten des englischen Erbrechts hindere den Anspruch nicht.
Die Anwendung des englischen Erbrechts verstößt im konkreten Fall gegen den deutschen ordre public (Art. 35 EuErbVO), da es kein mit dem deutschen Pflichtteilsrecht vergleichbares subjektives Mindestbeteiligungsrecht kennt.
Verstoß gegen den deutschen ordre public
Im Gegensatz zum deutschen Erbrecht kennt das englische Recht kein bedarfsunabhängiges Pflichtteilsrecht. Nach dem Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 besteht lediglich die Möglichkeit, auf Antrag eine „angemessene finanzielle Zuwendung“ zu erhalten – abhängig vom Ermessen des Gerichts und nur bei nachgewiesener Bedürftigkeit.
Das deutsche Pflichtteilsrecht hingegen beruht auf verfassungsrechtlich geschützter familiärer Solidarität und garantiert nahen Angehörigen einen wirtschaftlichen Mindestanteil am Nachlass. Es ist Ausdruck der Erbrechtsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG.
Anwendung des englischen Rechts ausgeschlossen
Nach Art. 35 EuErbVO darf die Anwendung ausländischen Rechts nur versagt werden, wenn sie mit der öffentlichen Ordnung des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. Ein bloßer Wertungswiderspruch reicht nicht aus – erforderlich ist ein schwerwiegender Konflikt mit fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen.
Die vom Erblasser vorgenommene Rechtswahl zugunsten des englischen Erbrechts stehe dem Anspruch nicht entgegen. Zwar sei eine solche Wahl gemäß Art. 22 Abs. 1 und Art. 83 Abs. 4 EuErbVO grundsätzlich zulässig, doch sei im konkreten Fall das englische Recht wegen Verstoßes gegen den deutschen ordre public gemäß Art. 35 EuErbVO unanwendbar.
Pflichtteil geht vor Rechtswahl
Selbst wenn ein Erblasser nach Art. 22 EuErbVO wirksam das Erbrecht seines Heimatstaats wählt, darf diese Wahl nicht dazu führen, dass verfassungsrechtlich garantierte Pflichtteilsansprüche umgangen werden. Das deutsche Pflichtteilsrecht ist Bestandteil der öffentlichen Ordnung (ordre public) und genießt Vorrang vor ausländischem Erbrecht, wenn andernfalls der grundrechtlich geschützte Nachlasszugang naher Angehöriger vereitelt würde.
• Rechtswahl ist möglich, darf aber nicht das Pflichtteilsrecht aushebeln – sonst greift der deutsche ordre public.
• Pflichtteilsrecht hat Vorrang, auch bei internationalem Erbfall und Adoption – es ist verfassungsrechtlich geschützt.
• Ordre-public-Vorbehalt schützt Angehörige, wenn durch ausländisches Recht ihre Mindestbeteiligung am Nachlass entfallen würde.
Quellen
[1] BGH Urteil vom 29.6.2022 – IV ZR 110/21