Anforderungen an die Geltendmachung des Pflichtteils
Pflichtteilsstrafklauseln in gemeinschaftlichen Ehegattentestamenten sollen sicherstellen, dass der überlebende Ehegatte nicht durch Pflichtteilsansprüche beeinträchtigt wird und zugleich die im Testament angeordnete Erbfolge erhalten bleibt. In der Praxis stellt sich häufig die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Pflichtteilsanspruch als so gewichtig anzusehen ist, dass er die Rechtsfolge der Klausel - meist die Beschränkung auf den Pflichtteil nach dem Tod des Letztversterbenden - auslöst. Entscheidend ist, ob die Geltendmachung des Pflichtteils eine bestimmte Form, Intensität oder Ernsthaftigkeit erreichen muss, um als "pflichtteilsrelevant" im Sinne der Klausel zu gelten.
Was ist geschehen?
Die Beteiligten zu 1 und 2 (B 1 und B 2) sind die beiden einzigen Abkömmlinge der Erblasserin (E) und ihres vorverstorbenen Ehemannes (M). Die Eheleute errichteten 1971 vor einem Notar ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben einsetzten.
In § 2 der Verfügung ist eine Pflichtteilsstrafklausel enthalten:
„Sollte eines unserer Kinder nach dem Tode des Erstversterbenden den Pflichtteil verlangen, so wird es auch nach dem Tode des Letztversterbenden auf den Pflichtteil gesetzt.“
M verstarb 1976. 1981 verkaufte seine Ehefrau E das ererbte Hausgrundstück sowie weitere Grundstücke für 282 000 DM und zahlte davon 110 000 DM an ihre Tochter B 2. In einem handschriftlichen Testament vom 1. Februar 1984 erklärte E, dass diese Zahlung im Einvernehmen mit beiden Kindern erfolgt sei und alle Ansprüche der B 2 auf den Nachlass des M abgelten solle. Zugleich bestimmte sie, dass ihr Sohn B 1 nach ihrem Tod das Hausgrundstück allein erhalten solle, während das übrige Vermögen gleichmäßig unter den Kindern aufgeteilt werden solle. Beigefügt war eine Erklärung der B 2 vom 13. Oktober 1983, in der sie erklärte, keinen Anspruch auf das Hausgrundstück zu haben und ihren Erbteil bereits erhalten zu haben. Nach dem Tod der E im Jahr 2022 beantragte B 1 einen Erbschein, der ihn als Alleinerben ausweisen sollte. Er berief sich auf eine Pflichtteilsstrafklausel, da B 2 nach dem Tod von M ihren Pflichtteil verlangt habe. Das Amtsgericht wies den Antrag zurück, woraufhin B 1 Beschwerde einlegte.[1]
Keine Auslösung der Pflichtteilsstrafklausel
Das OLG Braunschweig hat entschieden, dass sich die Erbfolge nach dem notariellen gemeinschaftlichen Ehegattentestament aus dem Jahr 1971 richtet. Das spätere eigenhändige Testament der E aus dem Jahr 1984 sei formunwirksam und wegen der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments gemäß § 2265 BGB unbeachtlich. Nach § 4 des Testaments waren B 1 und B 2 zu gleichen Teilen als Schlusserben eingesetzt.
Die zentrale Frage war, ob B 2 durch die Entgegennahme der 110.000 DM den Pflichtteil geltend gemacht und damit die Pflichtteilsstrafklausel ausgelöst hatte. Das Gericht verneinte die Anwendbarkeit der Pflichtteilsstrafklausel. Bei der Auslegung der Klausel kam es zu dem Ergebnis, dass diese nur dann eingreift, wenn der Pflichtteil ausdrücklich, ernsthaft und mit der erforderlichen Intensität geltend gemacht wird. Eine solche aktive Geltendmachung des Pflichtteils sei im vorliegenden Fall nicht erkennbar. B 2 habe nach dem Tod des M weder das Wort „Pflichtteil“ verwendet noch ein Verhalten gezeigt, das auf ein bewusstes Vorgehen in Kenntnis der Rechtslage hindeute. Vielmehr sei die Auszahlung des Geldbetrages im Jahr 1981 aufgrund einer einvernehmlichen familieninternen Regelung erfolgt, wie sie auch in dem handschriftlichen Testament der E sowie in der schriftlichen Erklärung der B 2 vom 13. Oktober 1983 zum Ausdruck komme. In dieser Erklärung sei nur von einem „Erbteil“, nicht aber von einem „Pflichtteil“ die Rede. Damit fehle es an dem für die Sanktionierung der Strafklausel erforderlichen Verhalten. Eine Sanktionierung durch Enterbung komme daher nicht in Betracht.
Keine Zweckverfehlung der Strafklausel
Eine finanzielle oder persönliche Belastung des überlebenden Ehegatten lag in diesem Fall nicht vor. Auch aus den weiteren Umständen ergibt sich nicht, dass die Pflichtteilsstrafklausel eingreifen sollte. Die Zuwendung an B 2 erfolgte freiwillig und nicht unter Druck; Anhaltspunkte für eine Belastungssituation oder familiäre
Spannungen sind nicht ersichtlich. Vielmehr stand bei der späteren letztwilligen Verfügung des E offenbar der Wunsch nach einer gerechten Verteilung unter den Kindern im Vordergrund und nicht die Sanktionierung illoyalen Verhaltens. Auch die Erblasserin selbst hat in ihrem handschriftlichen Testament B 2 nicht enterbt, sondern lediglich eine andere Verteilung des Nachlasses vorgesehen. Dies spricht gegen die Annahme, dass sie die Klausel als Sanktion verstanden wissen wollte. Vielmehr spricht alles dafür, dass eine einvernehmliche Regelung getroffen und von der Erblasserin respektiert wurde. Eine Pflichtteilsentziehung mit strafrechtlicher Konsequenz kann unter diesen Umständen nicht festgestellt werden.
Die Voraussetzungen für die Anwendung der Pflichtteilsstrafklausel lägen nicht vor. B 2 hat den Pflichtteil nach dem Tod des M nicht in rechtlich relevantem Sinne geltend gemacht. Der Erbscheinsantrag des B 1, der ihn als Alleinerben ausweisen sollte, war daher zurückzuweisen.
- Pflichtteil muss ausdrücklich gefordert werden:Eine Pflichtteilsstrafklausel greift nur, wenn der Pflichtteil nach dem ersten Erbfall ausdrücklich, ernsthaft und in Kenntnis der Rechtslage geltend gemacht wird – bloße Zahlungen im Familienkonsens reichen nicht aus.
- Einvernehmliche Regelungen stehen nicht entgegen:Erfolgt eine Auszahlung auf Basis einer familieninternen Vereinbarung ohne Konflikt oder Druck, liegt in der Regel kein „pflichtteilsrelevantes Verhalten“ vor.
- Wille der Erblasser ist entscheidend:Wird in späteren Testamenten keine Enterbung vorgenommen, spricht dies dafür, dass die Erblasser selbst keine Sanktionierung im Sinne der Strafklausel beabsichtigten.
Quellen
[1] OLG Braunschweig, Beschl. v. 13.2.2025 – 10 W 11/25