Testamentsauslegung: Wenn "Vorerbe" nicht wirklich Vorerbe heißt
Die Verwendung juristischer Fachbegriffe wie Vorerbe, Nacherbe oder Vermächtnis ist in Testamenten weit verbreitet - häufig auch in letztwilligen Verfügungen, die ohne professionelle juristische Hilfe erstellt wurden. Selbst die Mitwirkung eines Notars bedeutet nicht automatisch, dass die verwendeten Begriffe dem juristisch korrekten Verständnis entsprechen.
Im Erbrecht gilt daher ein zentraler Grundsatz: Entscheidend ist nicht der Wortlaut, sondern der wirkliche Wille des Erblassers. Die Begriffe sind stets im Lichte der gesamten Verfügung, der familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse und allfälliger ergänzender Erklärungen auszulegen. Eine schematische oder rein formale Anwendung juristischer Definitionen kann leicht zu Fehlinterpretationen führen - mit weitreichenden Folgen für die Erben und die Nachlassabwicklung.
Was ist geschehen?
Die Beteiligte zu 1) beantragte einen Erbschein, der sie als Alleinerbin ihres verstorbenen Ehemannes ausweisen sollte. Das Amtsgericht (AG) wies den Antrag mit Beschluss vom 22.02.2024 zurück. Begründung: Nach dem Testament vom 18.03.2020 sei sie lediglich befreite Vorerbin und nur beschränkt Erbin. Das AG berief sich auf den eindeutigen Wortlaut des Testaments und die Verwendung von Rechtsbegriffen wie „Vorerbe“, „Nacherbe“ und „Schlusserbe“, die bewusst gewählt worden seien.
Das AG vertrat die Auffassung, dass aufgrund der eindeutigen Begriffe im Testament und einer anwaltlichen Beratung der Wille der Eheleute klar sei: Die Ehefrau sollte nur befreite Vorerbin eines Grundstücks sein. Eine Sonderrechtsnachfolge in einzelne Nachlassgegenstände sei nicht möglich, weshalb die Zuwendung als Bruchteil des Nachlasses im Rahmen einer Vor- und Nacherbschaft zu verstehen sei. Vermächtnis nicht gewollt.[1]
Grundlagen der Testamentsauslegung
Die Auslegung eines Testaments richtet sich in erster Linie nach dem wirklichen Willen des Erblassers und nicht nach dem bloßen Wortlaut. Selbst die Verwendung juristischer Fachbegriffe wie „Vorerbe“ ist nicht bindend, wenn nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass sie im juristischen Sinne gemeint waren. Auch die Einschaltung eines Notars beweise nicht zwingend ein entsprechendes Verständnis.
Das AG habe zu sehr auf den Wortlaut und die Rechtsauskunft abgestellt. Der Begriff der Vor- und Nacherbschaft werde auch von Notaren häufig falsch verwendet. Wird eine beschränkte Vor- und Nacherbschaft - etwa nur bezogen auf ein Grundstück - angeordnet, ist dies rechtlich nicht durchführbar. In solchen Fällen spricht vieles für ein beschränktes Vermächtnis.
Bedeutung des Auslegungsvertrages
Der Auslegungsvertrag ist ein starkes Indiz für den tatsächlichen Willen des Erblassers. Er ist zwar für das Nachlassgericht nicht bindend, kann aber bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte entscheidende Bedeutung erlangen. Insbesondere dann, wenn er mit einer der Erblasser*innen - hier der Ehefrau - geschlossen wurde, die das Testament selbst mitverfasst hat.
Die Ehefrau ist Alleinerbin. Die Zuwendungen im Testament an die Enkelkinder bzw. die Tochter sind als aufschiebend bedingte Vermächtnisse und nicht als Teil eines Erbteils zu verstehen.
- Wortlaut ist nicht alles: Juristische Begriffe wie Vorerbe oder Nacherbe im Testament sind nur dann bindend, wenn sie dem tatsächlichen Willen des Erblassers entsprechen – selbst bei notarieller Mitwirkung.
- Fehlinterpretation durch Gerichte möglich: Das Amtsgericht legte das Testament formalistisch aus und übersah, dass eine beschränkte Vor- und Nacherbschaft rechtlich nicht umsetzbar ist – tatsächlich lag wohl ein befristetes Vermächtnis vor.
- Auslegungsvertrag als Indiz: Der mit der Ehefrau geschlossene Auslegungsvertrag bestätigte den Erblasserwillen, sie zur Alleinerbin einzusetzen – die testamentarischen Zuweisungen an Enkel und Tochter sind daher als Vermächtnisse zu werten.
Quellen
[1] KG, Beschl. v. 10.6.2024 – 19 W 28/24